Kartenschatten

Zusammenarbeit auf Distanz in der Wissensarbeit

Studie zur Innovationskraft von Teams

Trotz einer Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten zu den Auswirkungen von Zusammenarbeit auf Distanz (Remote Work) auf die Produktivität von Beschäftigten und Unternehmen fehlt bislang eine umfassende Antwort. Denn meist wird bei der Bewertung auf gut messbare, standardisierte Aktivitäten Einzelner gesetzt (siehe StudyNet-Beitrag „Weniger produktiv im Homeoffice“). Die weniger gut beurteilbaren Teamleistungen blieben ebenso außen vor wie die möglichen Folgen von Remote Work auf die Innovationskraft von Organisationen. 

Eine mögliche Antwort bietet nun eine Veröffentlichung von zwei Forschern der University of Pittsburgh, USA, und einem Kollegen der University of Oxford, Großbritannien. Das Team um Yu-Ru Lin analysierte über 20 Millionen wissenschaftliche Publikationen und gut 4 Millionen US-amerikanische Patentanmeldungen, um die unterschiedliche Dynamik von On-site- und Remote-Teams zu analysieren. Veröffentlicht wurde die Studie im November 2023 im Wissenschaftsmagazin Nature.

Motivation der Studie und Versuchsaufbau

Entgegen der Annahme, dass die technischen Möglichkeiten zur Zusammenarbeit auf Distanz den wissenschaftlichen und fachlichen Austausch erleichtern und somit die Chance auf echte Innovationen erhöhen würden, haben jüngere Forschungen gezeigt, dass „Ideen immer schwieriger zur finden sind“. Yu-Ru Lin und ihre Kollegen vermuteten daher, dass die neuen Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwar die Chance auf neuartige Wissenskombinationen erhöht, dieses Potenzial aber nicht effektiv genutzt wird. 

Dafür analysierten sie 20.134.803 wissenschaftliche Untersuchungen aus den Jahren 1960 bis 2020. Veröffentlicht wurden sie von 22.566.650 Forschern, von On-site-Teams und solchen, die ganz oder teilweise über größere Distanzen zusammenarbeiteten. Ein zweiter Datensatz umfasste 4.060.564 US-amerikanischer Patente von 2.732.326 Erfindern, die ihre Arbeiten in den Jahren 1976 bis 2020 zur Anmeldung gebracht hatten. 

Für all diese Veröffentlichungen wurden zunächst die Standorte der einzelnen Beteiligten sowie die daraus resultierende Distanz zu den anderen Projektbeteiligten ermittelt. Dabei wurde bei den Wissenschaftlern der Standort (Stadt) der jeweiligen Forschungseinrichtung herangezogen. Außerdem wurde festgehalten, ob sich die einzelnen Projektbeteiligten in unterschiedlichen Zeitzonen aufhielten. Parallel dazu wurde der Innovationsgrad der Publikationen und Patente beurteilt. Bei den wissenschaftlichen Publikationen wurden dafür spätere Zitierungen durch Dritte herangezogen. Enthielten diese neben der betrachteten Veröffentlichung auch Hinweise auf vorausgehende Untersuchungen, konnte davon ausgegangen werden, dass es sich bei den Forschungsarbeiten um Weiterentwicklungen im Sinne inkrementeller Entwicklungen handelte. Wurde nur die neue Forschungsarbeit zitiert, wies dies auf einen hohen Innovationsgrad oder disruptive Entdeckungen hin. Als mögliche weitere Einflussfaktoren wurden beispielsweise die Teamgröße und hierarchische Strukturen innerhalb der Teams erfasst. Anhand arrondierender Veröffentlichungen wurde schließlich ergänzendes Informations- und Datenmaterial zu den Aufgaben einzelner Personen innerhalb der Forscherteams ausgewertet. Diese standen für 57.887 Veröffentlichungen zur Verfügung. 

Besonderes Augenmerk wurde auf die Zeit um das Jahr 2010 gelegt, in dem gleich mehrere Anbieter Tools für Remote Work auf den Markt brachten (Trello, Slack, Microsoft 365, Google Drive, Zoom, Teams etc.).

Ergebnisse im Überblick

Arbeit auf Distanz führt zu weniger echten Innovationen

  • Im beobachteten Zeitraum stieg die durchschnittliche Distanz zwischen den Mitgliedern eines Forscherteams von 100 auf 800 km. Bei Patenten war der Effekt etwas geringer, aber immer noch deutlich. Statt anfangs bei 250 lag die durchschnittliche Entfernung der Beteiligten zuletzt bei 750 km. Gleichzeitig sank der Anteil der wissenschaftlichen Studien und Patente, die als disruptiv bezeichnet werden konnten, um 20 %. 
  • Besonders deutlich war der Rückgang hochgradig innovativer Veröffentlichungen, wenn die Teammitglieder über unterschiedliche Städte verteilt waren und somit die Wahrscheinlichkeit, gelegentlicher Präsenztermine abnahm. Die Teamgröße hatte dagegen keine Auswirkungen. 
  • Der Effekt verstärkte sich, wenn Teams über verschiedene Zeitzonen verteilt waren.
IBA StudyNet: Auswirkung von Remote Work auf Innovation
IBA StudyNet: Auswirkung von Remote Work auf Innovation

Vor-Ort-Teams konzeptionieren, Remote-Teams führen aus

  • Auch die Rollenverteilung in den Teams scheint mit dem Standort der einzelnen Personen zusammenzuhängen. Die Wahrscheinlichkeit, dass auf Distanz arbeitende Teammitglieder an den frühen, die Zielrichtung eines Projekts bestimmenden Phasen beteiligt werden, ist um 13 % geringer als bei den vor Ort arbeitenden Mitarbeitern. Am deutlichsten wird der Effekt in der eigentlichen Konzeptphase. Hier sinkt die Beteiligungswahrscheinlichkeit für entfernt arbeitende Teammitglieder um 20 %, und zwar wiederum unabhängig von der Teamgröße.
  • Generell und während aller Projektphasen übernehmen die weiter entfernt sitzenden Teammitglieder eher technische Aufgaben wie beispielsweise Datenerhebung und Datenanalyse. Projektkonzeption und die Interpretation der gewonnenen Ergebnisse bleiben häufig den Vor-Ort-Arbeitenden vorbehalten. 

Zusammenfassung und Interpretation

Die Studie belegt einen engen Zusammenhang zwischen dem gemeinsamem Entwickeln vor Ort und der Innovationskraft der Teams. Während hochgradig innovative Forschungen oder Patente meist von Personen bearbeitet wurden, die sich in einer Distanz von maximal 10 km aufhielten, arbeiten über große Distanz verteilte Teams mit höherer Wahrscheinlichkeit an Weiterentwicklungen vorhandener Technologien. Entsprechend verteilt sind auch die Rollen in hybriden Teams. Wer vor Ort sitzt oder zumindest regelmäßig an physischen Treffen teilnehmen kann, gibt die Richtung vor, alle anderen arbeiten häufig nur zu. Daraus schließen Lin und ihre Kollegen, dass über Distanz arbeitende Personen zwar den Know-how-Pool erweitern können, ihr Wissen aber häufig nur in Teilen einbringen. Darüber hinaus verweisen sie darauf, dass das gemeinsame Vor-Ort-Sein der Teammitglieder sowohl die Chance auf glückliche Zufälle (Serendipity) als auch die Wahrscheinlichkeit, dass ungewöhnliche Einfälle ernst genommen und weiterverfolgt werden, erhöht. 

Bemerkenswert ist, dass die beschriebenen Effekte auch nach 2010 bestehen blieben. Die Nutzung neuer Kommunikationstechnologien hat folglich nichts an den etablierten Prozessen verändert. 

Bedeutung der Ergebnisse für Remote Work in Unternehmen

Die Studie bestätigt, was seit einiger Zeit auch manche Führungskräfte und Beschäftigte in der freien Wirtschaft beobachten: Remote Work hilft, wenn es darum geht, Prozesse effizient zu gestalten; echte Innovation beruht dagegen häufig auf der Zusammenarbeit der Teilnehmer vor Ort. Eine mögliche Erklärung liegt in der Tatsache, dass der Zufall und die Bereitschaft, auch zunächst weniger sinnvoll erscheinende Ideen ernst zu nehmen, eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung echter Innovationen spielen. Beide kommen erfahrungsgemäß auch in den häufig eng getakteten Webkonferenzen der Unternehmen zu kurz. 

Als weitere Ursache für den engen Zusammenhang zwischen On-Site-Meetings und echter Innovation vermuten Yu-Ru Lin und ihre Kollegen, dass sich auf Distanz arbeitende Projektmitglieder weniger stark in die strategisch wichtigen Konzeptionsphasen einbringen, wodurch ihr Wissen nur teilweise ausgeschöpft werden kann. Dabei bleibt unklar, ob die entfernt arbeitenden Forscher ihr Wissen bewusst nicht in vollem Umfang in die Projektarbeit einbringen oder ob sie von Anfang nur zur Unterstützung einzelner Umsetzungsschritte wie Datenerhebung oder ‑analyse in die Forschungsarbeit einbezogen werden. Der Effekt bleibt jedoch in beiden Fällen derselbe: Möglicherweise wertvolles Wissen bleibt ungenutzt. Somit kann die Forschungsarbeit auch als Warnung für Unternehmen und ihre Beschäftigten interpretiert werden, dass die vollständige Ausschöpfung des Potenzials der Projektbeteiligten nur möglich ist, wenn ausreichende Präsenzzeiten eingeplant werden. Für Beschäftigte enthält die Studie die Botschaft, dass Präsenz notwendig ist, um eigene Fähigkeiten sichtbar zu machen. 

Informationen zur Studie

Lin, Y., Frey, C. B. und Wu, L. (2023), Remote collaboration fuses fewer breakthrough ideas. Nature 623, 987–991. https://doi.org/10.1038/s41586-023–06767‑1

Auch verfügbar unter: https://www.researchgate.net/publication/361135288_Remote_Collaboration_Fuses_Fewer_Breakthrough_Ideas

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Titelbild dieses Beitrags: istock/gorodenkoff Bild-Nr. 1481683923