Der 10. Oktober ist der World Mental Health Day. Die mentale Gesundheit rückt auch in der Arbeitswelt stärker in den Fokus. Grund für die IBA Forum Redaktion, sich mit verschiedenen Experten über das Thema auszutauschen. Den Anfang macht Nora Dietrich.
Warum ist Gesundheit am Arbeitsplatz heute ein immer wichtigeres Thema und warum beobachten wir immer häufiger Phänomene wie Burn-out, Erschöpfung und psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt?
Spätestens seit der Pandemie ist die Thematik präsenter geworden, weil klar geworden ist, dass Gesundheit das Fundament in allen Lebensbereichen ist. Zum ersten Mal saßen wir alle in einem Boot. Plötzlich gab es einen kollektiven Stressmoment, in dem jeder wusste, wovon er sprach. Das war ein Türöffner und der Punkt, an dem Organisationen verstanden haben, wir müssen mehr tun und regenerative Organisationskulturen entwickeln. Wir können nicht nur Leistung fordern, sondern müssen die Batterien wieder aufladen, damit neue Ideen und Kreativität entstehen können. Dazu gehört auch die mentale Gesundheit. Wenn wir uns unsere Jobs anschauen, dann gibt es einige Trends, die diese beeinflussen. Zum einen der Fachkräftemangel. Wir wissen, dass heute zwei Drittel der Beschäftigten die Belastung schon deutlich spüren, weil es nicht genug Schultern für das gibt, was es zu tragen gilt. Wir arbeiten mehr, deutlich verdichteter, enger getaktet, haben aber viel weniger Unterstützung von unseren Führungskräften, weil sie selbst auch überlastet sind. Der Stress hat allgemein zugenommen, privat wie beruflich, und damit auch die Fehlzeiten. Ich glaube aber auch, dass wir diese Phänomene häufiger beobachten, weil wir durch die Entstigmatisierung offener über alles sprechen können. Mentale Gesundheit ist kein Tabuthema mehr.
„Beschäftigte sprechen heute viel offener darüber, welche Ressourcen sie von ihrem Arbeitgeber benötigen, um gesund zu bleiben.“ Nora Dietrich
Was bedeutet „mentale Gesundheit“ überhaupt und wie ist deine persönliche Definition von Workplace Wellbeing?
Bei mentaler Gesundheit geht es darum, Gesundheit zu fördern, einen Zustand des „Flourishing“ zu erreichen, in dem wir all unsere Energie nutzen können, um kreativ zu sein und uns Ziele mit einer realistischen, optimistischen Sicht auf die Welt zu setzen. Bei Workplace Mental Health kommen noch andere Faktoren hinzu. Es geht nicht nur darum, wie ich mich privat fühle und mit wie viel Energie ich an die Arbeit gehe oder ob mir die Arbeit noch mehr Energie raubt. Es geht vor allem auch darum, ob mir die Arbeit Strukturen, ein Arbeitsdesign und nährende Beziehungen geben kann, die meine Gesundheitsbatterie aufladen. Wenn es häufig Konflikte im Team gibt, dazu unklare Ziele, ständige Veränderung und eine hohe Arbeitsbelastung, dann sind das alles Faktoren, die zu Stress oder einer Burn-out-Gefährdung führen können. Das heißt, Arbeitsplätze können strukturell, wie sie aufgebaut sind oder wie Zusammenarbeit organisiert ist, Gesundheit erhalten, fördern oder kosten. Es geht also im Kern um die Fragen: Was brauchen wir, um unsere bestmögliche Arbeit zu machen und trotzdem dabei gesund zu bleiben? Im Team, unserer Zusammenarbeit und von der Organisation? Das ist für mich die Idee von Workplace Wellbeing.
Ist es in Zeiten von New und Hybrid Work wichtiger geworden, sich um eine die Gesundheit der Mitarbeiter im Blick habende Arbeitskultur zu bemühen?
Gesundheit war schon immer wichtig, aber heute wird sie viel deutlicher eingefordert. Die jüngeren Generationen und zwar nicht nur die Millennials, sondern auch die Gen Z, sagen: Ich will einen Arbeitgeber, der modern, menschenorientiert und gesundheitsbewusst ist. Auch in den älteren Generationen ist dieser Wunsch stärker geworden, weil wir heute Dank Entstigmatisierung endlich die Möglichkeiten dazu haben. Als Arbeitgeber muss ich mich immer fragen: Kann ich es mir leisten, dieses Bedürfnis zu ignorieren? Denn wenn wir uns aktuelle Studien ansehen, die besagen, dass 60 bis 80 % aller Mitarbeitenden für einen Job, bei dem mentale Gesundheit mehr im Vordergrund steht, den Arbeitsplatz wechseln würden, dann sollte uns das zu denken geben. Das schließt auch Führungskräfte ein, die oft noch viel stärker belastet sind als die Mitarbeitenden. Eine gesunde Arbeitskultur ist tatsächlich eine Frage der Arbeitgeberattraktivität und wenn wir von New Work sprechen, dann geht es vor allem auch darum, sinnstiftend sowie stärkenorientiert zu arbeiten und Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Da gehört Gesundheit einfach ganz grundsätzlich dazu. Das war ja auch die Idee von Hybrid Work, dass ich meine Arbeit an mein Leben anpasse und nicht mein Leben an meine Arbeit. Ich kann mich als Organisation zwar dagegen entscheiden. Aber dann verliere ich womöglich viel Potenzial auf dem Talentmarkt. In Zeiten des Fachkräftemangels nicht unbedingt ratsam.
Wie sollte Arbeitskultur gestaltet sein, damit Menschen mental gesund arbeiten können? Du sprichst in diesem Zusammenhang gerne von einer „Mental Health Culture“.
In Unternehmen darf sich eine Fürsorgekultur entwickeln, die auf individuelle Bedürfnisse Rücksicht nimmt. Es geht darum, Teams und Führungskräften Skills oder Methoden zur Gesundheitsförderung an die Hand zu geben. Ein gutes Tool kann das „Manual of Me“ sein, eine Anleitung für mich selbst, die aufzeigt, was jeder Einzelne braucht, um seine Arbeit bestmöglich zu erledigen. Brauche ich die Kollegen oder komme ich allein auf die besten Ideen? Manchmal sind es schon die kleinen Kollaborationspunkte im Alltag, die stressen oder nähren können. Und die gilt es zu entdecken. Dazu gehört auch, zu erkennen, dass ich oder mein Team gestresst bin. Und zu wissen, wie ich damit dann umgehe. Wie führe ich fürsorgliche, einfühlsame Gespräche und welche Möglichkeiten habe ich als Führungskraft, wenn der Mitarbeiter sagt, er kann nicht mehr, er steht kurz vor dem Burn-out, was dann? Das ist eine Kompetenz, über die die wenigsten Führungskräfte verfügen. Und auch die Frage zu beantworten, wie kann ich selbst Vorbild sein? Wir wissen, dass nur wenige Führungskräfte ein gesundes Arbeitsverhalten vorleben. Als Mitarbeiter stellt man sich dann die Frage: Wie kann ich im Job auf mich achten, wenn es nicht wirklich vorgelebt wird und man damit scheinbar Karriere macht? Es geht um das Wie der Zusammenarbeit, aber auch um die Art und Weise, wie man reagiert, wenn Stress aufkommt. Es geht darum, aufeinander zu achten und zu verstehen, dass mentale Gesundheit vor allem bedeutet, dass wir hohe Leistung erbringen, weil wir ein hohes Wohlbefinden am Arbeitsplatz haben. Wellbeing ist also die Voraussetzung für Leistung und die Basis für Erfolg.
Hier geht es zu Teil 2. des Interviews:
Nora Dietrich ist Mental Health Expertin, Keynote Speakerin und Organisationsdesignerin. Sie berät Teams und Führungskräfte zu der Frage: Was brauchen wir, um unsere Arbeit bestmöglich zu leisten und dabei gesund zu bleiben? Die Verhaltenstherapeutin arbeitet auch für das Zukunftsinstitut und berät Organisationen strategisch und bei der Umsetzung von New Work. Dabei übersetzt sie ihre Expertise aus der Verhaltenstherapie in die Welt der Organisationen. Mehr Informationen unter https://www.noradietrich.com/.
Titelbild: Nora Dietrich