Es mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen, dass Gemüsefarmen Einfluss auf die Kultur eines Unternehmens haben sollen, doch das Wiener Start-up Soilful propagiert genau das. Die beiden Gründer, Tatjana Tupy und Stefan Faatz-Ferstl, sehen in der innovativen Verbindung zweier bislang getrennter Welten eine große Chance: Gemüsefarmen, die auf die Bedürfnisse von Unternehmen und Organisationen zugeschnitten sind, sollen als Katalysatoren dienen, um die Organisationskultur zu verändern und gleichzeitig eine regenerative Zukunft zu gestalten. Stefan Faatz-Ferstl erläutert im Folgenden das Konzept.
physische orte der lebendigkeit
Ich habe viele Organisationen bei ihren Kulturveränderungen begleitet. Oft waren das sehr aufwendige und beratungsintensive Prozesse. Ist die externe Begleitung dann mal weg und vielleicht eine Krise am Horizont, fällt die Organisation schnell wieder in alte Muster zurück. Wie eine langfristige Verankerung der neuen Kultur auch ohne externe Unterstützung gelingen kann, hat mich lange beschäftigt.
Als ich 2020 weitgehend aus der Beratung ausgestiegen bin, habe ich mich ganz auf die Transformation des Ernährungssystems fokussiert. Es ist eines jener globalen Systeme, das für eine lebenswerte Zukunft radikale Veränderung braucht. Schritt für Schritt ist die Organisationsentwicklung dann mit dem Ernährungssystem zusammengewachsen. Es ist toll, bei der Entwicklungsarbeit zu lernen, wie vielfältig die Potenziale des Ansatzes sind.
eine farm als physischer ort der veränderung
Soilful baut auf Dachflächen oder Rasenflächen direkt am Standort von Unternehmen Gemüsefarmen auf und betreibt diese mit professionellen Gärtner:innen. So wird auf 5.000 m² Gemüse für 100 wöchentliche Kisten angebaut, das als Snack im Büro, für die Kantine oder für den eigenen Bedarf der Mitarbeiter:innen genutzt werden kann. Durch die Integration von Freiluftarbeitsplätzen, Besprechungsecken, Workshopräumen und Erholungszonen sind die Farmen nicht nur nachhaltige Lebensmittelproduzenten, sondern werden zu Orten der Begegnung und einer neuen Arbeitsqualität. Physische Orte haben eine enorme Auswirkung auf den Menschen. Kombiniert mit sozialen Formaten sind sie ein wirkungsvoller Hebel für Veränderung. Darüber hinaus belegen diverse Studien (siehe weiterführende Links), dass der regelmäßige Kontakt zur Natur den Stresslevel senkt und sogar die kognitiven Fähigkeiten verbessert. Eine neue Aufenthaltsqualität am Bürostandort ist vielleicht auch eine hilfreiche Motivation, doch ins Büro zu kommen, statt im Homeoffice zu sitzen. Die Organisation hat zudem zahlreiche Benefits, die über den Kulturwandel hinausgehen: betriebliche Gesundheitsförderung, Employer Branding, ESG-Kriterien (z. B.: Biodiversitätsaufbau, CO2-Bindung), Marketing, um nur einige zu nennen.
der zirkuläre und co-kreative transformationsprozess
Damit wirksame Veränderung möglich ist, ist der gemeinsame Entwicklungsprozess der Farm von wesentlicher Bedeutung. Aufseiten der Organisation gibt es ein interdisziplinäres Transformationsteam aus 6 bis 8 Personen, die punktuell eingebunden sind. Statt eines linearen Milestone-Plans handelt es sich um einen zirkulären Prozess, der sich in Schleifen den Gegebenheiten anpasst. Wir starten klein, vielleicht nur mit einer Feuerstelle und einem Besprechungseck, sammeln Erfahrungen und passen die Farm laufend an. Dabei richten wir uns nach den Zyklen der Natur. So verändert sich die Farm von Saison zu Saison.
die farm als autonome zelle in einem großen netzwerk
Jede Farm einer Organisation ist eine autonome Zelle. Alle Farmen werden in einem digitalen und sozialen Netzwerk miteinander verbunden und bilden so ein lernendes System. Im Zentrum stehen dabei Fragen, wie z. B. die effiziente Gemüseproduktion bei gleichzeitigem Biodiversitätsaufbau und die Resilienz des Systems durch Klimaschwankungen optimiert werden können. Wir freuen uns, dass wir jetzt Ende des Jahres zwei Förderungen erhalten haben, um die Strukturen für die Skalierbarkeit unseres Microfarming-Systems aufzubauen.
exkurs zur regeneration
Nachhaltigkeit fokussiert darauf, nicht mehr Rohstoffe aus einem Ökosystem zu nehmen, als nachwachsen können. Der Fokus liegt quasi darauf, keinen Schaden zu verursachen. Hier kommt der Paradigmenwechsel hin zur Regeneration: Es geht darum, das Leben ins Zentrum zu stellen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die jede Form von Leben wachsen lassen. Das beginnt bei den Bodenlebewesen in der Landwirtschaft und geht bis zu regenerativem Leadership in Organisationen. Hier ein Kurzfilm: What is Regeneration? https://www.youtube.com/watch?v=GMLyhJw4Bps